Richtsatzsammlung: Schätzung von Prüfern nicht in jedem Fall erlaubt
Weist die Buchführung eines Betriebs Mängel auf, dürfen die Betriebsprüfer des Finanzamts die Richtsatzsammlung bei der steuerlichen Schätzung von Gewinnen und Umsätzen nicht in jedem Fall anwenden. Das hat der Bundesfinanzhof aktuell entschieden. Ecovis-Steuerberaterin Claudia Reim in Demmin erklärt das Urteil und die Bedeutung für Unternehmen.
Zum Hintergrund der Richtsatzsammlung
Die amtliche Richtsatzsammlung enthält Durchschnittswerte für unterschiedliche Branchen, zum Beispiel typische Rohgewinnaufschläge in Bäckereien, Friseursalons oder Gaststätten. Sie dient der Finanzverwaltung als Vergleichsmaßstab, wenn etwa bei einer Betriebsprüfung keine oder fehlerhafte Aufzeichnungen vorliegen. Grundlage hierfür ist die Abgabenordnung. Sie erlaubt es, den Gewinn zu schätzen, wenn die tatsächliche Buchführung nicht ausreicht (Paragraph 162 Abgabenordnung, AO).
Der Fall: Diskothek versus Gastronomie
Im konkreten Fall ging es um eine Diskothek, deren Kassenführung für Getränkeeinnahmen unzureichend war. Das Finanzamt wollte zur Schätzung der fehlenden Umsätze die Richtsatzsammlung der allgemeinen Gastronomie heranziehen. Das Problem: Eine Diskothek funktioniert wirtschaftlich anders als ein klassisches Restaurant oder eine Kneipe.
Das Urteil: Bundesfinanzhof lehnt pauschale Anwendung ab
Der Bundesfinanzhof (BFH) stellte klar: Eine Schätzung anhand der allgemeinen Gastronomie-Richtsätze ist in diesem Fall unzulässig (BFH-Urteil vom 18. Juni 2025, X R 19/21). Die Richtsatzsammlung darf sich nicht schematisch auf Spezialbetriebe beziehen. Zuvor sollte immer eine Prüfung erfolgen, ob die betriebliche Realität zum Vergleichswert passt.
Innerer versus äußerer Betriebsvergleich
Ein wichtiger Punkt ist die Abgrenzung zwischen:
- dem inneren Betriebsvergleich: Vergleich mit früheren Jahren oder internen Daten des Unternehmens.
- dem äußeren Betriebsvergleich: Vergleich mit Durchschnittswerten aus der Richtsatzsammlung oder branchentypischen Kennzahlen.
Der BFH betont: Der innere Betriebsvergleich ist grundsätzlich aussagekräftiger, weil er näher an der Realität des konkreten Betriebs ist. Die Finanzverwaltung muss das bei der Wahl der Schätzungsmethode berücksichtigen.
Zweifel an der Richtsatzsammlung: Ist diese verlässlich?
Der BFH äußert auch grundsätzliche Zweifel an der Qualität der Richtsatzsammlung:
- Es ist unklar, wie repräsentativ die Datenbasis ist.
- Bestimmte Betriebe und die Ergebnisse von Verlustbetrieben sind damit systematisch ausgeschlossen, was zu Verzerrungen führen kann.
- Die Sammlung ist nicht transparent nachvollziehbar, was problematisch ist, wenn sie vor Gericht als Beweismittel dient.
Fazit: Schätzung bleibt erlaubt – aber differenziert
Das Urteil bedeutet nicht, dass die Prüfer künftig nicht mehr schätzen dürfen, wohl aber, dass eine pauschale Anwendung der Richtsatzsammlung nicht zulässig ist, wenn sie nicht zum Betrieb passt. Besonders für laufende Betriebsprüfungen und Rechtsbehelfsverfahren sollte das Urteil Beachtung finden. Der BFH hat noch keine abschließende Beurteilung des streitgegenständlichen Sachverhalts getroffen.
„Unternehmen sollten daher zusammen mit ihrem Steuerberater in solchen Fällen genau prüfen, ob ein innerbetrieblicher Vergleich möglich ist und ob die angewendeten Richtsätze wirklich geeignet sind. Für die Praxis bedeutet das: Prüfer müssen sorgfältiger abwägen, welche Schätzmethode sie wählen“, fasst Claudia Reim, Steuerberaterin bei Ecovis in Demmin, zusammen.