„Erhebliche Zweifel“: BFH stellt Richtsatzsammlung auf den Prüfstand
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„Erhebliche Zweifel“: BFH stellt Richtsatzsammlung auf den Prüfstand

Welche Auswirkungen hat das auf Ihre Betriebsprüfung?

Mit seinem Urteil vom 18. Juni 2025 (Az. X R 19/21, Entscheidung Detail | Bundesfinanzhof) hat der Bundesfinanzhof (BFH) ein klares Signal gesetzt: Die amtliche Richtsatzsammlung, seit Jahrzehnten Grundlage vieler steuerlicher Schätzungen, steht jetzt auch auf höchstrichterlicher Ebene in der Kritik. Erstmals äußert der BFH „erhebliche Zweifel“ an ihrer Eignung. Was bedeutet das für die Steuerpflichtigen?

Worum ging es?

Im konkreten Fall ging es um eine Hamburger Diskothek, deren Betriebseinnahmen wegen fehlerhafter Kassenführung von der Betriebsprüfung geschätzt wurden (§ 162 Abs. 1 Satz 1 AO § 162 AO – Einzelnorm). Das Finanzgericht Hamburg hatte die Richtsätze für Gaststätten angewendet und einen satten Rohgewinnaufschlagsatz von 300 % angesetzt – dabei blieb es noch unter den Schätzungen der BP.

Der BFH hob diese Entscheidung aber auf: Die Hinzuschätzung auf der Grundlage eines äußeren Betriebsvergleichs und unter Berücksichtigung eines Rohgewinnaufschlagsatzes von 300 % war nicht nachvollziehbar begründet worden.

Der BFH stellte dabei klar:

Innerer Betriebsvergleich vor äußerem Betriebsvergleich.

Das heißt: Bevor auf allgemeine Richtsätze zurückgegriffen wird, muss geprüft werden, ob sich das Ergebnis nicht genauer aus den eigenen Daten des Betriebs ableiten lässt – etwa durch eine Nachkalkulation des Wareneinsatzes. Letztere biete als die zuverlässigere Schätzungsmethode eine bessere Chance, mit zumutbarem Aufwand das wahrscheinlichere Betriebsergebnis zu erzielen.

Kritik an der Richtsatzsammlung

Der BFH rügt deutliche methodische Mängel, vor allem die fehlende statistische Repräsentativität. Die Richtsätze beruhen nicht auf echten Zufallsstichproben, sondern auf Betrieben, die entsprechend der Kriterien des § 193 AO § 193 AO – Einzelnorm zur Außenprüfung bestimmt wurden.

Problematisch nach Wertung des BFH sind dabei etwa folgende Punkte:

  • Verlustbetriebe fehlen komplett,
  • Extremwerte werden entfernt,
  • und das Auswahlverfahren ist nicht transparent.

Auch die extrem breiten Spannen sah der BFH als Problem. Beispielhaft führte das Gericht hier u.a. Rohgewinnaufschlagsätze für folgende Branchen an:

  • Hotels, Gasthöfe und Pensionen: 257 % bis 1.329 %,
  • Kosmetiksalons: 150 % bis 1.011 %.

Ein so großer Spielraum verlangt zwingend eine gute Begründung, warum genau ein bestimmter Wert gewählt wird. Und selbst bei der Anwendung einer „tauglichen“, also wirklich repräsentativen Richtsatzsammlung lägen laut BFH nur 70 von 100 Betrieben im Richtsatzrahmen – die anderen 30 % sind „Ausreißer“. Dies unterstreicht nach BFH die Ungenauigkeit der Schätzungsmethode. Demnach ist die amtliche Richtsatzsammlung in ihrer gegenwärtigen Form für den BFH kein taugliches Instrument für eine Schätzung nach § 162 AO im Wege des äußeren Betriebsvergleichs.

Was bedeutet das für die Praxis?

Der äußere Betriebsvergleich bleibt zwar erlaubt, verliert aber an Bedeutung und kann nur nachrangig herangezogen werden. Finanzämter und Gerichte müssen künftig genauer begründen, wie sie auf ihre Werte kommen und dass dies rechtlich zulässig und einwandfrei zustande gekommen ist (§ 5 AO – Einzelnorm).

Für die Richtsatzschätzung bleiben nach dieser Entscheidung nur noch Betriebe, bei denen die Aufzeichnungen derart lückenhaft oder inhaltlich zweifelhaft sind, dass sie bei zumutbarem Aufwand als Grundlage für einen – auch mit Restunsicherheiten behafteten – inneren Betriebsvergleich ausscheiden. Absolute Buchhaltungs-Chaoten und sog. „Beweisverderber“ können also auch künftig einem äußeren Betriebsvergleich unterworfen werden.

Die BFH-Leitplanken für künftige Schätzungen:

  1. Zunächst soll die oben dargestellte, mitunter weite Spanne der Rahmensätze unter Heranziehung der tatsächlichen Verhältnisse des zu schätzenden Betriebs (Lage in einem Hochpreis- oder Niedrigpreisgebiet, Kundenkreis, sonstige Besonderheiten) zu einem schmaleren, realistischen Bereich verengt werden.
  2. Sodann muss man sich auf einen bestimmten Wert aus dieser verengten Spanne festlegen.
  3. Dieser Wert muss nachvollziehbar begründet werden – etwa unter individueller Berücksichtigung der Region, Kundenstruktur (z.B. auch Alter), Preisniveau, Betriebskosten. Die Schätzungsergebnisse müssen schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein (u.a. Entscheidung Detail | Bundesfinanzhof).

Damit macht auch der BFH deutlich, dass zwischen einer Würstchen-Bude am beliebten Badesee und der Sternegastronomie nicht nur kulinarisch Welten liegen. Dabei soll weder der einen, noch der anderen Einrichtung ihre Berechtigung abgesprochen werden.

Fazit: Alles hat ein Ende, nur die Richtsatzsammlung (noch…) nicht

Die Richtsatzsammlung bleibt – aber nicht mehr als bequeme „Allzweckwaffe“ der Betriebsprüfung.

Das Urteil markiert einen Paradigmenwechsel: Weg von pauschalen Annahmen, hin zu methodisch sauberen, transparenten Schätzungen unter Berücksichtigung individueller Begebenheiten.

Für Steuerpflichtige ist das eine gute Nachricht:

Künftig müssen Finanzämter genauer hinsehen – und ihre Schätzungen besser begründen.

Die bloße Anwendung der Richtsatzsammlung wurde von uns von jeher hinterfragt. Wir verteidigen in Fällen der Steuerhinterziehung immer gemeinsam mit erfahrenen Steuerberaterinnen und Steuerberatern und erstellen in geeigneten Fällen gemeinsam mit diesen Kalkulationen, die ihren Betrieb möglichst genau wiedergeben.

Einen ersten Überblick über die Themen Betriebsprüfung, Kassenprüfung und strafrechtliche Folgen können Sie sich auch hier verschaffen.

Ansprechpartner

Dr. Janika Sievert, LL.M. Eur.
Dr. Janika Sievert, LL.M. Eur.
Rechtsanwältin, Fachanwältin für Strafrecht, Fachanwältin für Steuerrecht in Würzburg und München
Tel.: +49 931-352 87 52

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