Der Brexit und die (volkswirtschaftliche) Folgen: Stellen wir uns auf die andere Seite des Kanals und schauen uns die EU und den Brexit von dort aus an.
Die alte Handelsmacht England, das Vereinigte Königreich, betrieb schon Handel mit Übersee und hatte Kolonien auf vier weiteren Kontinenten, als sich in Deutschland noch fürstliche und gräfliche Kleinstaaten balgten und ein einheitliches Staatengebilde nicht erkennbar war.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, der zwar gewonnen wurde, lag dieser koloniale Glanz jedoch mehr oder weniger in Schutt und Asche. Großbritannien war zwar nicht so ausgebombt wie Deutschland – doch auch der Mitsieger war ausgezehrt vom langen Kampf. Die Welt wurde neu geordnet und Europa wiederaufgebaut. In der EWG taten sich Frankreich mit Deutschland und weiteren Nationen zu einer Wirtschaftszone zusammen. Da wollten sie auf der Insel noch nicht dazu gehören. Warum auch – als alte Kolonialmacht mit weltweiten Handelsverbindungen sah man keinen Grund dazu. Man war vielleicht ein wenig traditionell und dachte mehr in Zoll und Inches, in Pfund, Linksverkehr und Monarchie. Später – als die Engländer dann doch die Aufnahme anstrebten, verhinderten die anderen Länder dies. Der ehemalige Staatspräsident der Französischen Republik, Charles de Gaulle, intervenierte mehr als ein Jahrzehnt lang gegen die Aufnahme von Großbritannien in die EWG. Solange befanden sich einige der heutigen EG-Nationen in der konkurrierenden EFTA, die ihren Fokus ebenfalls auf die vier Grundfreiheiten der EG richtete, aber darüber hinaus nicht an eine politische Union dachte.
Glücklich waren die Engländer nicht mit der EWG, EG und EU als sie endlich aufgenommen waren. Kaum waren sie beigetreten, entwickelten sich Anfang der siebziger Jahre die Wirtschaftszahlen im eigenen Land als Folge der Ölkrise schlecht. Das war in den anderen europäischen Ländern nicht anders, aber schon damals musste ein Referendum über den Verbleib in der EWG entscheiden, das aber am 5. Juni 1975 zugunsten der EWG ausfiel.
Und dann folgte die Ära Margaret Thatcher. Sie setzte erfolgreich den Briten-Rabatt durch, der seit 1984 den Engländern kumuliert mehr als 100 Milliarden Euro Nettozahlungen in die EG ersparte. Dennoch wurden die Briten nie so richtig warm mit der Länder-Gemeinschaft. Inzwischen gab es Themen wie den Euro 1999 und die erste EU-Osterweiterung 2004. Man blieb auf kritischer Distanz und machte stattdessen Innenpolitik mit dem Verbleib in der EU oder dem Ausstieg aus der EU. Am 23. Juni 2016 fiel dann eine Entscheidung für den Ausstieg und viele waren überrascht in Großbritannien und in den anderen europäischen Ländern.
Was sich nun ändert
Zunächst ändert sich – nichts. Unabhängig vom politischen Getöse sind die Engländer noch in der EU. Und wenn sie den Austrittsantrag stellen, sind über den Weg und die Bedingungen lange Verhandlungen zu führen. Das können die Briten mit großem Erfolg – siehe Briten-Rabatt und Nichteintritt in die Eurozone.
Neben der EWG und später der EG/EU gab es immer die EFTA (European Free Trade Assoziation), der ursprünglich auch Großbritannien angehörte, solange das Land nicht der EWG beitreten wollte bzw. durfte. Dort finden wir heute noch Norwegen, Liechtenstein, Island und die Schweiz. Mit der EFTA und den genannten Ländern, hat die EU seit Jahrzehnten ein vertieftes Freihandelsabkommen geführt, wodurch der Europäische Wirtschaftsraum (EWR) gebildet wird (hier ist die Schweiz als einziges Land der vier EFTA-Länder nicht Mitglied), in dem auch die vier Grundfreiheiten der EU gelten. Weder die Bundesrepublik noch die EU haben ein Interesse daran, an diesen Grundfreiheiten generell etwas zu ändern.
Natürlich wird es Partialinteressen geben, die die veränderten Rahmenbedingungen in die eine oder andere Richtung zu ihren Gunsten hin nutzen wollen. Natürlich hat der EU-Austritt Auswirkungen auf den Handel. Natürlich beeinflusst der aktuelle Pfund-/Euro-Kurs die Güterpreise in England und in den anderen Ländern der EU. Ein in England produziertes Gut, das nach Deutschland importiert wird, ist unter den gegebenen Bedingungen der aktuellen Kursentwicklung um ca. 5 Prozent günstiger als vor der Brexit-Entscheidung. Das wird Auswirkungen auf die Güterströme haben. Die schnelle Börsenreaktion spiegelt nicht das mittel- und langfristige Handeln von Unternehmen wieder. Derzeit stellen wir eher spekulatives Handeln fest. Rationale Entscheidungen von Unternehmen sehen anders aus.
Unternehmen brauchen Planungssicherheit und sind darauf angewiesen, dass die Entwicklung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Ausland rational und nachvollziehbar ist, denn Investitionsentscheidungen sind im internationalen Maßstab größer geworden und unterliegen bei der Fremdfinanzierung einer intensiveren Prüfung und sind langfristige Entscheidungen.
Wesentlicher für die aktuelle Wirtschaftsentwicklung ist die gesellschaftspolitische Positionierung der EU und der Bundesrepublik in Bezug auf die Migrationspolitik. Der Brexit ist in Großbritannien mit diesem Thema befeuert worden. Der freie Personenverkehr innerhalb der EU wurde dort nicht mitgetragen, soweit Asylanten und Wirtschaftsmigranten aus der EU den Weg in das Vereinigte Königreich fanden. Die Insellage trat wieder in den Vordergrund. An dieser Stelle wird es zu Diskussionen kommen, wenn Großbritannien über den Umweg der EFTA weiterhin am Europäischen Wirtschaftsraum und damit am Freihandel teilhaben wird. Die Akzeptanz der Abschottung von Großbritannien steht in Abhängigkeit von der Positionierung der gesamten EU und nicht zuletzt der Bundesrepublik zur Migrationspolitik.
Die Neuanbindung von Großbritannien und deren Ausgestaltung (zum Beispiel EFTA) – vielleicht auch die weiterer EU-Länder – wird beeinflusst von der Migrationspolitik und einer vertretbaren homogenen Haltung der EU-Gesellschaften zu ihren Nachbarn an den Ost- und Südgrenzen. Es geht nicht allein um Wirtschaftspolitik. Aus der EWG entstand die EU mit dem Ziel, nicht nur ein wirtschaftliches Europa, sondern auch ein politisches Europa nach dem Zweiten Weltkrieg zu bilden. Erkennbar ist, dass die Politik die Menschen dazu nicht vollständig mitgenommen hat. Es wird Zeit, dass die Politik und die Menschen erkennen, dass eine offene Volkswirtschaft an den EU-Grenzen keine Einbahnstraße ist. Und es wird Zeit, dass wir den Brexit als Signal dafür erkennen, dass die Menschen nicht das hohe Tempo der EU-Erweiterung gesellschaftspolitisch mitgegangen sind. Die volkswirtschaftlichen Folgen des Brexits gehen über die aktuelle Entwicklung hinaus. Es wird Zeit, dass wir das erkennen und uns die dafür notwendige Zeit nehmen.
Autor: Dr. Holger Fischer, Unternehmensberater bei Ecovis in Würzburg, holger.fischer@ecovis.com