Trotz Krisen und Inflation die Weichen für die Zukunft stellen
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Trotz Krisen und Inflation die Weichen für die Zukunft stellen

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Die Auswirkungen der Corona-Pandemie, unterbrochene Lieferketten oder die geopolitische Lage und ihre Folgen machen den Unternehmen weltweit zu schaffen. Hinzu kommen jetzt noch die gestiegenen Energiekosten und die Inflation. Welche Auswirkungen hat das alles auf die wirtschaftliche Lage? Cuneyt Kazokoglu, Direktor für Energiewirtschaft und Energiewende bei Facts Global Energy (FGE) in London, gibt einen Ausblick auf die Situation in Deutschland und Europa.

Herr Kazokoglu, die Stimmung unter den Unternehmen in Europa und weltweit ist so schlecht wie schon lange nicht mehr. Was sind die Hauptfaktoren dafür?

Auf dem World Economic Forum 2023 in Davos wurde der Begriff „Polykrise“ geprägt, um einen Zustand zu beschreiben, in dem sich globale Krisen kaskadenartig ausbreiten und ineinandergreifen. Zwar haben sich einige dieser Belastungen in den vergangenen Monaten abgeschwächt, doch die Gesamtbedingungen bleiben schwierig: In Europa herrscht immer noch ein Krieg. Die globalen Versorgungsketten sind angespannt und die Energiepreise sind immer noch hoch, auch wenn sie in den vergangenen Monaten aufgrund des milden Winters, des geringeren Verbrauchs und des reichlichen LNG-Angebots erheblich gesunken sind. Das kann sich aber in der zweiten Jahreshälfte ändern, wenn Europa die Erdgasspeicher vor dem nächsten Winter auffüllen will. Eine potenziell stärkere chinesische Nachfrage, die aufgrund der Covid-19-Sperrungen eingeschränkt war, kann zu einem weiteren vorübergehenden Anstieg der Erdgaspreise führen.

Ist das Ende der steigenden Inflation bereits erreicht oder ist damit zu rechnen, dass die Inflation noch länger anhält?

Vor allem in Europa wird die Inflation nicht so bald enden. Wichtig ist, dass die Inflationsrate im Januar 2023 mit 8,5 Prozent niedriger war als im Dezember 2022 mit 9,2 Prozent. Das ist aber ausschließlich auf den Rückgang des Erdgaspreises zurückzuführen. Die Kerninflation, also die Inflationsrate ohne die volatilen Lebensmittel- und Energiepreise, blieb hoch und dürft e erst in der zweiten Jahreshälfte zurückgehen. Außerdem besteht die Gefahr, dass die Wiedereröffnung Chinas die Inflation anheizen könnte. Es ist daher wahrscheinlich, dass die Inflation in Europa noch länger relativ hoch bleibt.

Wie werden sich Ihrer Meinung nach, steigende Zinsen auf das Wirtschaftswachstum in Europa auswirken?

Die Zinssätze sind aufgrund des hohen Niveaus von einem historischen Tiefstand aus angestiegen. Sie führen zu höheren Kosten für die Kreditaufnahme. Diese Kosten können möglicherweise wieder auf das niedrige Niveau der letzten Jahre zurückgehen. Wenn sie hoch bleiben, wirken sie sich negativ auf das Wirtschaftswachstum und die Investitionsstimmung aus. Gerade in Europa, wo Unternehmen in großem Umfang in transformative Energietechnologien investieren müssen, können hohe Kreditkosten ein erhebliches Problem für die entsprechenden Branchen sein.

Können Sie Aussagen treffen, wie sich das globale Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Europa im Jahr 2023 entwickeln wird? Wie ist der Ausblick für Deutschland?

Die Wirtschaft in der Eurozone (plus 3,5 Prozent) ist im vergangenen Jahr schneller gewachsen als die der USA (plus 2,1 Prozent) und Chinas (plus 3 Prozent). Dies ist das erste Mal in fast 50 Jahren. Im vierten Quartal 2022 wuchs das reale BIP der Eurozone um 1,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Grund dafür ist der milde Winter, was die Erdgasnachfrage einschränkte und Preisspitzen verhinderte. Während das BIP der Eurozone im vierten Quartal 2022 um 0,1 Prozent gegenüber dem Vorquartal wuchs, sank das deutsche BIP um 0,2 Prozent gegenüber dem Vorquartal. Der Hauptgrund dafür ist der hohe Anteil der Industrie in Deutschland. Hier hat sich das Wachstum verlangsamt. Der Erdgaspreis ist zwar gesunken, aber er ist immer noch höher als vor dem Krieg in der Ukraine. Jeder Industriezweig, der Strom oder Erdgas als Rohstoff benötigt (Chemie, Metall), erlebt einen negativen Schock. Darüber hinaus wurden die Verbraucherausgaben aufgrund der sich verschlechternden Stimmung und der Ungewissheit über die Zukunft trotz direkter staatlicher Unterstützung zurückgefahren. Diese Probleme werden auch im Jahr 2023 noch andauern. Die Auswirkungen auf die Industrie sind bereits zu spüren. In der zweiten Hälft e des Jahres 2022 sind die Erdgaspreise in die Höhe geschossen. Infolgedessen hat die deutsche Industrie ihren Erdgasverbrauch um 22 Prozent im Vergleich zum Vorkriegsdurchschnitt gesenkt. Dies ist nicht nur das Ergebnis höherer Effizienz, sondern wurde durch die Drosselung der Produktion erreicht, in einigen Fällen sogar dauerhaft. Unternehmen wie BASF oder Dow bauen in Europa und Deutschland dauerhaft Kapazitäten ab.

Gibt es bestimmte Energielösungen, in die Unternehmen investieren sollten, um unabhängig von den Marktpreisen agieren zu können?

Bevor in Energieerzeugung investiert wird, sollten Unternehmen versuchen, eine höchstmögliche Energieeffizienz zu erreichen. Energieeffizienz wird als der „erste Treibstoff“ bezeichnet. Danach hängt viel von der Größe des Unternehmens ab. Natürlich kann jeder sein Dach mit Sonnenkollektoren ausstatten, aber um die Energierechnungen deutlich zu senken, ist die Größe entscheidend, und das ist nicht einfach.

Bitte geben Sie uns zum Abschluss des Interviews einen Ausblick auf Deutschland für das Jahr 2023/2024.

Deutschland befindet sich an einem Wendepunkt. Die nächsten zwei Jahre werden über das Schicksal vieler Industriezweige im Land entscheiden, da das alte Modell von Produktion und Export mit sicherer russischer Energie vorbei ist. Deutschlands industrielle Führungsrolle auf dem Kontinent zu erhalten, ist die zentrale Herausforderung. Der Inflation Reduction Act (IRA) in den USA dient nicht nur der Klimapolitik. Er ist in erster Linie ein Instrument der Arbeitsmarktpolitik. Zusammen mit den niedrigen Energiepreisen schafft der IRA einen enormen Anreiz für große Unternehmen, ihren Standort in die USA zu verlegen. Geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Industrie in Deutschland zu halten, ist die Herausforderung Nummer eins. Die Reduzierung der Treibhausgasemissionen bedeutet, dass Deutschland in den kommenden Jahren viele neue Technologien einsetzen muss. Dazu gehören der Ausbau der Stromerzeugung und -übertragung aus erneuerbaren Energien, Elektrofahrzeuge oder Wasserstoff: In vielen dieser Sparten ist Deutschland – sowie auch ganz Europa – bereits stark von China abhängig. Chinas führende Rolle bei neuen Energietechnologien ist kein kurzlebiges Phänomen. China wird auch 2030 führend sein. Die zweite Herausforderung besteht also darin, die Emissionsminderungsziele mit einer Industriepolitik in Einklang zu bringen, die sicherstellt, dass Deutschland die neuen Energietechnologien selbst produziert.

Über Cuneyt Kazokoglu

Der Wirtschaftswissenschaftler Cuneyt Kazokoglu ist bei Facts Global Energy in London für die Analysen zu Entwicklungen im Bereich der neuen Energien, der Energiewende sowie deren Wechselwirkungen mit bestehenden kohlenwasserstoffbasierten Brennstoff en verantwortlich. www.fgenergy.com

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